Lauftext

Quer durch die Worte kommen Reste von Licht. (Franz Kafka)

Nietzsches Freund
Die Lebensgeschichte des Paul Deussen

Einleitung
Obwohl auf einem Grabstein Raum genug ist, um,
in Moos gebunden, die gekürzte Fassung vom
Leben eines Mannes aufzunehmen, so sind
doch Einzelheiten stets willkommen.
                                              Vladimir Nabokov
 

Als Gustav Meyrink 1917 einen seiner skurrilen, geheimnisvollen Romane veröffentlichte, fragte sich Kurt Tucholsky in einer Buchkritik: »Ich möchte gern einmal wissen, was wohl Professor Deussen in Kiel zu diesem Priester der Weisheit sagt.« Deussen war zu seiner Zeit neben dem in England lehrenden Sprachforscher Friedrich Max Müller die tonangebende Geistesgröße in Sachen indischer Kultur und Spiritualität; vor allem seine Übersetzung von Sechzig Upanishad’s hatte dazu beigetragen, die Anziehungskraft asiatischen Denkens und Glaubens in deutschsprachigen Landen sprunghaft zu erhöhen. Auch sein schwieriger Freund Nietzsche adelte ihn zum guten Schluß. In der Schrift Zur Genealogie der Moral spricht er von dem »ersten wirklichen Kenner der indischen Philosophie in Europa, meinem Freunde Paul Deussen.«

Doch an der Universität in Kiel, wo Deussen einen Lehrstuhl innehatte, freilich nicht als Indologe, sondern als Professor der Philosophie, wollte man ihn am Ende loswerden. Papa Deussen, wie ihn seine Studenten liebevoll-neckisch nannten, hatte längst die Siebzig überschritten, war aber partout nicht geneigt, seine Planstelle zu räumen. Er galt als Unikum, das, halbblind, unentwegt Verse aus den Veden, aus Goethes »Faust« rezitierte, die Inkarnation eines deutschen Professors, »wie er im Buche steht, mit Schlapphut und Gehrock, weißem Bart und Goldbrille.« So hat er sich auch ablichten lassen; in seiner posthum erschienenen Autobiographie Mein Leben zeigt ihn das Foto, von seidigem, halb durchsichtigem Papier bedeckt, in würdigster wilhelminischer Pose.

Der ordentliche Professor schlug seinen Widersachern an der Christian-Albrechts-Universität noch einmal ein Schnippchen, hielt bis zuletzt Vorlesungen und starb, wie er es sich ausdrücklich gewünscht hatte: in den Sielen, mit dieser Metapher aus der Landwirtschaft an seine Westerwälder Heimat erinnernd (Siele: bedeutet Seile und meint die Riemen im Geschirr der Zugtiere). So nimmt es nicht wunder, daß er dort in Oberdreis im Landkreis Neuwied seine letzte Ruhestätte fand. Eine kleine Rache an Kiel, wo er sich nie sonderlich wohlgefühlt hat?

Allerdings empfand es auch sein Heimatdorf als Zumutung, daß ein Buddhist auf ihrem Kirchhof zu liegen kam, zudem eingeäschert in einem Urnengrab. Pietät gegenüber Vater Adam Deussen, der, wie dann sein Filius in Kiel, in jahrzehntelanger Treue als Oberdreiser Gemeindepfarrer ausgeharrt hatte, wird die Zustimmung zur endgültigen Rückkehr des zu weltweiter Berühmtheit gelangten Sohnes erleichtert haben. In die schlichte Steinplatte meißelte der Steinmetz nichts weiter als:

D E U S S E N

1919

Ein eigentümliches, zu denken gebendes, in seiner Knappheit nicht zu unterbietendes Epitaph, das da aus Sparsamkeit, aus Bosheit oder als Kompromiß gewählt worden war und so noch heute, in restaurierten Lettern, auf der mittlerweile einzigen Grabstätte unmittelbar neben der evangelischen Kirche zu sehen ist. Der Dorffriedhof ist seit langem umgezogen, einzig Paul Deussen hat auch hier seinen Platz behauptet.

Was das Schlußkapitel in Kiel betrifft, so hatte man schon vor dem Krieg Briefe nach Berlin geschrieben und die Behörde um Ersatz für den alternden Deussen ersucht, es bedürfe eines frischeren, jungen, dem Geist der Zeit aufgeschlossenen Fachkollegen. Zu sehr von sich überzeugt als öffentlicher Erzieher und Weltverbesserer, wies Deussen den Gedanken an eine Emeritierung weit von sich; auch wird ihm die Aussicht auf verringerte Versorgungsbezüge nicht geschmeckt haben, denn der materiellen Sicherheit maß er zeitlebens, und besonders in Kriegszeiten, größte Bedeutung bei. Als konservativer Gelehrter, der mit dem Zusammenbruch des Kaiserreichs auch die traditionellen humanistischen Werte dahinschwinden sah, glaubte er Widerstand leisten zu müssen gegen alle sozialistisch-materialistischen Tendenzen, gegen Negativität und Skeptizismus der Moderne. Die Vielzahl innovativer kultureller Strömungen um die Jahrhundertwende nahm er nur am Rande wahr. Auf kurios insistierende Weise veranschaulicht die doppelte Neunzehn auf seinem Grabstein Deussens Zugehörigkeit zum 19. Jahrhundert.

Nach dem Scheitern des Wilhelminismus mußte er notgedrungen demokratisches Gedankengut an sich heranlassen. So sehr Deussen dem Kaiser gegeben hatte, was des Kaisers war, wozu 1891 eine Geburtstagsrede zur Feier Seiner Majestät gehörte, und gewillt war, sich auch mit dem neuen republikanischen Souverän zu arrangieren, was in einem von ihm in seinen letzten Lebenstagen mitverfaßten Appell an den amerikanischen Präsidenten Wilson zum Ausdruck kam – die höchste Instanz, der sich Deussen verpflichtet fühlte, war und blieb, ungeachtet aller Macht- und Systemwechsel die philosophia perennis, die Suche nach der ewigen Wahrheit.

Die Erkenntnis der Wahrheit, dessen war er gewiß, gehe unbeirrt ihren stillen, sicheren Gang, auch wenn ihre Stimme zeitweilig von dem Lärm der Modetorheiten übertönt werde.

Der weitgereiste Weltbürger war gegen jede irdische Heimattümelei gefeit, doch er wählte das Dorfbegräbnis, die Bestattung im heimatlichen Gottesacker als Würdigung seiner Herkunft und als behutsame Geste der Geisteshaltung eines Weisen, der bescheiden Abschied genommen hat von der Scheinwelt des Diesseits, dem Blendwerk der Maya – es mag leidvoll, ergreifend oder betörend gewesen sein – und, gemäß christlicher Diktion, zur Seligkeit in Abrahams Schoß gelangt, oder, hinduistisch gesprochen, zur ewigen Wonne Brahmans.

Kants summarische Frage: Was ist der Mensch? darf im Rahmen einer Biographie getrost umformuliert werden. Was für ein Mensch war Paul Deussen? Für das Leben Deussens waren Kants Leitfragen von existentieller Bedeutung: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Immer wieder hat sich der Denker Deussen, in der Gefolgschaft Schopenhauers, diese Fragen gestellt, also auch die dritte, die letzte, die nach der Unsterblichkeit der Seele, und er hat sich selbst, seinen Hörern und Lesern eine überindividuelle Antwort gegeben, die er, erhellender als bei Plato, Paulus oder Kant, in indischer Weisheit fand. Ex oriente lux, das Licht kam für ihn aus dem Osten.

William James, amerikanischer Philosoph, gleichaltrig mit Deussen, veröffentlichte 1902 eine Studie, für die er zunächst den Titel vorsah: »Der religiöse Appetit des Menschen und seine Befriedigung durch die Philosophie.« James nannte sein Buch schließlich Die Vielfalt der religiösen Erfahrung. In einem Vorwort spricht Peter Sloterdijk von »James’ amerikanischer Aversion gegen das alteuropäisch Absolute, dem er vorhält, es pferche alles Leben in den Käfig des Einen.« Tatsächlich hat Deussen dieses tiefverbindende Eine in der Heterogenität der religiösen Erscheinungen aufzuspüren versucht, überzeugt davon, daß der Kern aller Religionen identisch sei, mit einer jeweils anderen Schale, »mag sie nun etwas mehr oder weniger vollkommen sein – unvollkommen sind sie alle.«

Und doch gibt es zwischen James und Deussen offenkundige Parallelen: Seine zwischen 1894 und 1917 erschienene Allgemeine Geschichte der Philosophie ergänzt im Titel, kleiner gedruckt, mit besonderer Berücksichtigung der Religionen. Deussens religiöser Appetit war unersättlich, vererbt von seiner pietistisch gottesfürchtigen Mutter, deren Glaubenseinfalt der theologisch aufgeklärte Sohn, ausgestattet mit dem Mute, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, aus Gründen geistiger Redlichkeit naturgemäß nicht übernehmen konnte. Tiefenpsychologisch gesehen mag Deussens lebenslang durchdachtes Bemühen, sich das Etikett Christ zu erhalten, von dem Motiv geleitet sein, den mütterlichen Kummer über das Abirren des Sohnes zu überwinden.

Eine respektable Karriere: vom Dorfbuben zum Geheimrat, vom Hinterwäldler – und Nietzsche griff zeitweise in aller Freundschaft noch zu kraftvolleren Injurien – zum vielsprachigen Kosmopoliten, dem ein wissenschaftliches Lebenswerk zu vollenden gelang, das nicht nur hohe Wertschätzung in Fachkreisen, sondern in Europa und besonders in Indien den Namen Deussen in den gebildeten Bevölkerungsschichten weithin bekannt machte.

Eine geglückte Vita; so hat es den Anschein, wenn auch eine Vielzahl von vorzeitigen, tragischen Todesfällen seinen Lebensweg säumt, von denen Nietzsche der prominenteste ist. Deussen selbst stellt inmitten von »Kreuz, Tod und Gruft« eine robuste, sportlich abgehärtete Erscheinung dar von schier ungebrochenem Elan, als praktiziere er Nietzsches Vitalitätsprogramm, das dieser selbst nur hat verkünden, nicht aber leben können. Die Deussen-Karikatur, zu der die meisten Biographen Nietzsches neigen, indem sie ihn neben dem Genialen als behäbige, devote, komische Figur erscheinen lassen, trifft, wenn überhaupt, allenfalls auf Deussens Lehrjahre bis 1872 zu. Mit Beginn seiner Wanderjahre, die ihn nach Genf, Aachen, Rußland und schließlich nach Berlin führen, reift Deussen zu jener in sich ruhenden Persönlichkeit, die, philosophisch fundiert, in authentisch unzeitgemäßer Weise zu einem berichtigten Leben im ansonsten falschen, egoistischen aufruft und der Karl Jaspers später »liebenswerte Wahrhaftigkeit« bescheinigte.

Im Gegensatz freilich zu Schopenhauer, der nichts als die Wahrheit gesucht haben will, mühte sich Deussen auf seinem Weg nach oben mit ganz irdischem Ehrgeiz um die von Schopenhauer geschmähte Position des »Kathederphilosophen«. Er hielt es für völlig vereinbar mit seinen idealistischen Erkenntniszielen, »den Ertrag der Sache mit Weib und Kind behaglich zu verschmausen« (so Schopenhauer polemisch), wie ihm überhaupt in seinem 74jährigen Leben nichts Menschliches fremd geblieben ist, wozu beispielsweise auch die Begabung gehörte, sich immer neu zu verlieben. Im fortgeschrittenen Alter kam es dann zu der Begegnung mit einer großen Seelenverwandten: Henriette Hertz, der Begründerin der Bibliotheca Hertziana in Rom.

Freimütig äußert er sich darüber in Mein Leben. Er strebt auch hier die Wahrheit an, »jedoch mit dem Vorbehalte, daß es uns gestattet bleibe, andere, sei es Lebende oder Tote, wie auch vielleicht uns selbst gelegentlich zu schonen«. So verständlich solche Glättungen sind – eine hundert Jahre später geschriebene Biographie ist natürlich an Rissen und Brüchen des Persönlichkeitsbildes interessiert, sofern sie bei näherem Hinsehen zum Vorschein kommen. Seine Offenheit war im übrigen erstaunlich genug und überschritt nicht selten die Grenze zur Unbedachtsamkeit. Deussens Erinnerungen an Friedrich Nietzsche sind geradezu schonungslos gegen sich selbst, wenn er zum Beispiel von dem Fauxpas berichtet, Freund Fritz nicht überschwenglich und bewundernd genug zur frühen Professur in Basel gratuliert zu haben. Seine Zunge, seine Feder sei oft redseliger, als es das Deussenherz verantworten könne, wirft ihm der Außerordentliche vor.

Das geschah zu einem Zeitpunkt, als Deussen sich noch von ihm Vorschriften machen ließ – zu seinem Glück! Nietzsche, der mehrfach in den Bildungs- und Werdegang seines Freundes eingriff, wurde so auch zu Deussens »Schicksal«. Erst als sie dann getrennte Wege gingen und sich nur noch gelegentlich schrieben und noch seltener wiedersahen, gelang es Deussen, sich von dem übermächtigen Freund zu emanzipieren und sein Lebensschiff mit Kurs auf Indien selber zu steuern.

Es fällt auf, daß der Name Nietzsche in den 1901 begonnenen, 1914 abgeschlossenen Memoiren, vor allem, wenn man das über 700 Seiten starke Original-Manuskript liest, das, nach Jahrzehnten in familiärer Verwahrung, jetzt eingesehen werden kann, deutlich weniger häufig auftaucht, als zu vermuten gewesen wäre. Deussen erklärt die Auswahl seiner Erinnerungsepisoden seinerseits mit dem Bild einer Schiffahrt:

Das Kleine, Nahe verdeckt stellenweise das Große, aber Ferne, die höchsten schneebedeckten Gipfel in der Entfernung erscheinen klein gegen den niedrigen Felsvorsprung, an dem wir vorbeifahren, und doch ist es eine und dieselbe Landschaft, und alle die verschiedenen Anblicke, welche sie dem Betrachter bietet, sind so wahr wie die Natur selbst, die sich in ihnen offenbart.

Ein Perspektivismus der Teilwahrheiten, ganz im Sinne Nietzsches, hinter denen sich, ganz im Sinne Deussens, die letzte, eine Wahrheit andeutet.

Täuscht der Eindruck, daß wir gegenwärtig von einer guten Zeit für Metaphysik sprechen können? Von einer »Rückkehr zur Religion«? Die Erkenntnisse der Naturwissenschaften bewegen sich auf ein Weltbild zu, das hinter den Erscheinungen der Materie eine letzte geistige Wirklichkeit annimmt. Der interkulturelle, interreligiöse Dialog wird intensiver, moralische Werte finden neue Anerkennung, das Interesse an der Analyse historischer Prozesse nimmt zu, die klassische Bildung gewinnt an Rückhalt. Da paßt ins Bild die Beschäftigung mit dem Lebensweg eines Denkers, der vom Dorfe kommt und ausgezogen ist, im Weltdorf die metaphysische Vielfalt zu studieren, beseelt von der Ahnung ihrer geheimen Einheit, bestrebt, diese durch akribische Forschung zu bestätigen. Es wird reizvoll sein, Deussen auf diesem Weg zu begleiten; es ist zu wünschen, daß der philosophische Appetit des Lesers seine Befriedigung im religiösen Denken Deussens finde – beziehungsweise umgekehrt …

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